
Förderung: Freistaat Bayern, LfA Bayern, BBK Bayern. Gestaltung: Paulina Mimberg
Johanna Locher
Markisenzeit
An die Wand gelehnt und golden, bereit es mit Lawinen aufzunehmen: die Arbeit „Vor unserer Zeit“. Stupste ich sie an, sie würde davonzuckeln, anders kann es gar nicht sein.
Alles scheint, als wäre es nur kurz sichtbar, wie eine sanft aufblitzende Erinnerung. Oder als wären die Erinnerungen sich ihrer selbst doch nicht mehr so sicher wie noch vor ein paar Augenblicken. Also leise, sonst wäre alles weg.
Wie frisch zurück von einer Reise stehen die Objekte im Raum. Bei einigen haben nur die schmalsten Linien noch in die Koffer gepasst. Die anderen sind von selbst gelandet. Im Ursprung sind sie alt wie Geschichten von Apfeldieben, nun mit einem frischen Anstrich, der noch glänzt. In Einzelteile zerlegte Erinnerungen, die Anleitung würde nur Verwirrung stiften. Die Markise hat ihren gestreiften Stoff vergessen, auch sowas kann passieren. Und für Markisen braucht es Sommer: Einmal Wolken am Spieß, bitte. Den Erdbeerpulli hab ich immer gemocht.
Gezeichnete Notizen, mit höflicher Tinte gemalt, und ihre Nachbarn dürfen sie sich selbst aussuchen. Ja, ich esse gern. Dort, wo die Gedanken hängen bleiben, bilden sich Tintenpfützen, mal seichte und mal tiefe. Noch eine Reise wäre schön. Wenn ein Flugzeug in matrosenblau mich ins Land der Markisen bringen könnte, ich denke, Anna wäre auch da.
In wasserbleichen Farben läuft der Sommer aus, sinkt in die birkenkühlen Arme des Septembers. Dort ist die Drohung von Baba Yagas Haus, auf uns loszugehen, wie elektrisches Kinderspielzeug. Wer weiß, vielleicht sind wir noch immer nicht groß genug, um zu entkommen.
Der Wind zieht an und ich denke an den Besteckkasten zuhause, wie die Löffel fröhlich blitzen.
An guten Tagen trippeln die Gedanken wie kleine Vögelchen am Strand. In blassgrün oder rosa, die besonders lauten auch mal lachsfarben. Hier wird konzentriert im Sand gewühlt, dort am Tang herum gezupft und manchmal wird gezetert.

Thomas Georg Blank
Theater der Möglichkeit
Beobachtungen zum künstlerischen Werk von Anna Bläser
Keine Sockel, keine Rahmen, Vorrichtungen der Fixierung fehlen. Stattdessen Stützen, die dabei helfen, den Moment in eine Weile zu übersetzen, ohne die Illusion der Dauer zu behaupten. Wenn überhaupt, denn oft liegen die Werke ganz schlicht auf dem Boden, lehnen an der Wand oder sind mit unsichtbaren Klebestreifen und dünnen Fäden fixiert. Ein Gang durch die installativen Objekt- und Zeichnungsräume der Künstlerin Anna Bläser wird von feinsten Qualitäten bestimmt. Leichtigkeit in der Materialität und großzügiger Umgang mit negativem Raum zeichnen sowohl die Arbeiten auf Papier als auch die verschiedenen aus Metall, Stoff, Holz oder Gips gearbeiteten Objekte aus.
Für Betrachtende ist viel Platz zum Atmen und Interpretieren vorhanden und trotz der im besten Sinne unaufdringlichen Präsenz ihrer Kunst scheinen Begriffe wie ephemer oder flüchtig fehl am Platz zu sein. Zu greifbar sind die Werke dafür. Sie buhlen nicht laut um Aufmerksamkeit, verstecken sich aber auch nicht leise in der Ecke. Die anwesenden Arbeiten sprechen mit einer klaren Stimme und es fällt leicht, in ihnen Persönlichkeit zu entdecken. Selbst ohne die Illusion von Bewegung wirken sie animiert. Diese Beseelung trägt allerdings kein performatives Moment in sich, sondern ein erregtes Gefühl von lebendiger Zeit. Da Dauer und Flüchtigkeit jedoch nicht die angemessenen Wörter sind, um die Arbeit der Künstlerin zu beschreiben, muss eine andere Vokabel her. Vorübergehend scheint ein geeigneter Begriff zu sein. Er trägt eine andere Geschwindigkeit in sich, nicht die Panik der Flucht oder die Flatterhaftigkeit der Kurzlebigkeit, stattdessen die Ruhe des Gangs. Die Werke von Anna Bläser könnten sich also als Vorübergänger charakterisieren lassen. Vorübergänger sind keine Beiläufer oder Zwischendurchler. Sie leben im Zustand der Ausnahme, sind bekannt für ihre Besonderheiten und die Reiselust. Sie sind verlängerte Momente der Veränderung, außergewöhnlich und unterwegs.
In der Kunst von Anna Bläser wird das Flüssige fest und das Feste flüssig, eine Gegebenheit ist lediglich unterwegs zur anderen. Insbesondere in ihren Zeichnungen ist das Transitorische spürbar, denn obwohl die meist mit Tusche oder Aquarell gezeichneten Linien und Formen auf dem Papier fixiert sind, bleiben Spuren der wässrigen Farben immer deutlich sichtbar, geben Einblick in die Bewegungen der zeichnenden Hand. Auch eine Zeichnung wie „üks, kaks, kolm“ trägt den Vorübergänger in sich. Die vier konisch zulaufenden Formen könnten Bergspitzen andeuten, jene massiven Erscheinungen, die jenseits von Lawinen nicht für ihre Bewegungsfreude bekannt sind. Inspiriert sind die Formen von kleinen Findlingen in der Ostsee vor Tallinn, die mit von Möwendreck weiß gefärbten Spitzen im Wasser schlummern. Doch in dieser speziellen Zeichnung wirkt das geologische Quartett eher wie die Aufnahme einer Gruppe von Großstädtern, die sich ihren Weg nach vorne bahnt. Dazu passt auch der Titel, der übersetzt ins Deutsche „Eins, zwei, drei“ lautet. Denn schon entwickelt sich diese Szene mit dem Bild der wandelnden Großstädter im Kopf zur Verkehrszählung. Jenseits der Zeichnungen ist auch in Objekten wie „Wintermantel für einen Brunnen“ der Vorübergang angelegt. Wird es Frühling muss er weichen. Aber auch ohne den Titel zeigt dieses Objekt sehr eindeutig, dass es hier nur temporär weilt. Hölzerne Griffe bedeuten uns die Möglichkeit, diesen Wintermantel ohne großen Aufwand umplatzieren zu können. Überhaupt zeichnet sich das Werk von Anna Bläser durch die starke Präsenz der Möglichkeit aus. Das könnte daran liegen, dass die Künstlerin einen ausgeprägten Möglichkeitssinn besitzt. Robert Musil beschreibt diesen weitestgehend unbekannten Sinn in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ als die Fähigkeit, „[…] alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. […] Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. […] Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven […]“.
Was Robert Musil als Gespinst bezeichnet, entwickelt sich mit Blick auf die Werke von Anna Bläser zu einem Geflecht aus Beziehungen, das dramatisch gelesen werden kann, als theatraler Raum. Das Theatrale trägt, im Gegensatz zum Performativen, mehr Spiel in sich und weniger Leistung, ist naiver und sanfter. Ein Raum, gefüllt mit den Werken von Anna Bläser, wird zum Theater der Möglichkeit. Wichtig ist dabei, die Zeichnungen und Objekte nicht mit Bühnenelementen zu verwechseln. Im Gegenteil, die Werke selbst sind Akteure und voller Leben. Wer die Künstlerin bei der Entwicklung ihrer Arbeiten und Installation beobachtet, wird schnell verstehen, woher diese Lebendigkeit stammt. Eine unübersehbare Leidenschaft für die Objekte in der Welt geht von ihr aus, die jedoch nicht das geringste mit dem zum Anhäufungswahn verkommenen Konsumieren zu tun hat, von der die konsequent durchkapitalisierte Welt so sehr geprägt ist. Es ist eine wunderbare und fast kindliche Freude am Projizieren und Fantasieren. Stützen werden zu Beinen, Neigungen im Material zum Ausdruck von Stimmung und Stoffe zu atmenden Körpern. Laut der traditionellen Vorstellung der Ainu, den Ureinwohnern des nördlichen Japans und Teilen Russlands, sind alle Dinge belebt, haben eine eigene Kraft und wirken, wie auch Tiere und Pflanzen, analog zum menschlichen Handeln. Diese Entitäten werden als Kamuy bezeichnet, ein Wort, welches sich eher schlecht als recht mit Bär oder Gottheit übersetzen lässt. Weit entfernt von den kalten Ebenen Hokkaidos scheinen sich die Vorstellungen der Ainu tief in der Wahrnehmung von Anna Bläser manifestiert zu haben. Die daraus resultierende Haltung gegenüber der Welt ist von Respekt und Aufmerksamkeit für jegliche Umwelt und Feinsinnigkeit im Bemerken von Atmosphären geprägt. Gerade in Zeiten, die so stark von erhöhten Kontrasten in Debatten und Darstellungen geprägt sind, werden derartige poetische Fähigkeiten in der Wahrnehmung zu fast schon politischen Qualitäten. Zu dieser Feinsinnigkeit passt auch, wie die Künstlerin Wiederholungen und Variationen von Formen einsetzt. Immer wieder treten Objekte als Paare auf und auch in den Zeichnungen sind diese zu entdecken. Abfolgen von Ähnlichkeiten lassen sich als Interesse an Verwandtschaften von Zuständen lesen. Repetitive Oberflächen wie Holzmaserungen, Wellen oder Salatköpfe tauchen immer wieder auf. Dieser formale Griff geht Hand in Hand mit der Abwesenheit fixierender Präsentationsmedien und verstärkt in diesem Theater der Möglichkeit das Gefühl, dass eindeutige Feststellungen ein merkwürdiger Irrglaube fehlgeleiteter Geister ist. Eine wunderbare Pluralität pulsiert stattdessen wahrnehmbar. Auch die Künstlerin selbst scheint sich dessen mehr und mehr bewusst zu werden und in neuen Zeichnungen wie „Alles so neu“ (2022) spricht ein verändertes Selbstbewusstsein, Verzweigungen werden prägnanter, fast wie ein Fahr- oder Schienenplan muten die Linien an. Dass sich „Alles so neu“ an Zeichnungen wie „Einführung in die Holzbauweisen“ (2021) anschließt, wirkt im Rückblick wie die logische Konsequenz des Studiums der Denkmalpflege in ihrer Heimatstadt Bamberg, welches sie dem Studium an der Kunstakademie in Karlsruhe angeschlossen hat. „Alles so neu“ heißt nämlich auch, dass die Künstlerin ihre eigene Rolle im Theater der Möglichkeit entdeckt hat und damit die Welt und ihre eigene Arbeit verändert wahrnimmt. Sie ist nicht allein herrschende Regisseurin, sondern Pflegerin, bereitet die Bühne vor, kümmert sich um die darstellenden Vorübergänger und bewahrt stets eine höfliche Distanz zum Publikum. Betrachtende können sie und andere menschliche Protagonisten in den Titeln ihrer Arbeiten entdecken, einer Kleinstbühne für gelegentliche Auftritte benennbarer Subjekte. „Weihnachten hat mich kalt erwischt“, „In the land of my dreams“ und „Sie schläft länger als die Bettdecken“ sind nur drei Beispiele dafür.
Ein anderes Beispiel für die Art und Weise, wie der Mensch und vielleicht die Künstlerin selbst in ihrem Werk sichtbar wird, ist die ebenfalls aus dem Jahr 2022 stammende Zeichnung „Wasser und Wolken“. Ein menschlicher Torso ist darauf zu sehen, umrissen mit blaugrauen Linien und einer dunklen, kreisförmigen Fläche dort, wo ein Herz zu vermuten wäre. Stattdessen eine Fläche mit Fransen an den Rändern, vielleicht ein Loch, eine Öffnung im Körper. Oder aber ein Objekt außerhalb des Brustkorbs, festgewachsen, verzahnt mit der Haut eine Art Schutz oder Schild. Es ist jene Unbestimmtheit, die diese Zeichnung anziehend und ausdrucksstark macht. Ebenso wie der Titel „Wasser und Wolken“ zwei Aggregatzustände des selben Moleküls anspricht, vermittelt die Zeichnung selbst ein Gefühl, welches je nach Kontext und Verfassung des betrachtenden Auges schwer, dicht, offen, schützend oder verletzt sein könnte. Dieser vielfältige Eindruck ist der besonderen Abstraktion zu verdanken, welche die Künstlerin über die Jahre entwickelt. Reduzierte Formen, verdichtet zu vermeintlich einfachen Konstrukten aus Linien und Flächen. Die Bilder und Objekte, die ihren Weg in die Installationen von Anna Bläser finden, sind formal bestechend, aber nie erschöpfend ausformuliert, sind wunderbare Beobachtungen von Alltag und Welt, Notizen des Weltenwandels und freundliche Einladung zum Imaginieren mit offenem Geist. Das Theater der Möglichkeit von Anna Bläser ist ein Raum voller Freiheit, der die Sinne stimuliert und das Interpretieren fast schon herausfordert. Doch Vorsicht ist geboten, denn Eindeutigkeiten haben hier keinen Platz und selbst die treffendste Erfassung muss sich letztlich eingestehen: es könnte wahrscheinlich auch ganz anders sein.